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Mehrdeutigkeit als künsterlisches Prinzip


Laudatio im Prinzregententheater München am 2. Mai 2016 aus Anlass der Verleihung des Ernst von Siemens Musikpreises an Per Nørgård
Anders Beyer (Laudator), Per Nørgård (Komponist) und Michael Krüger (Vorsitzender des Stiftungsrates der Ernst von Siemens Musikstiftung).

Von Anders Beyer

Per Nørgård hatte schon als Teenager ein künstlerisches Credo, das kurz gesagt darauf hinauslief, so viele wie möglich größtmöglich zu verwirren. Von diesem Ausgangspunkt her bildete sich später die tiefere Grundlage einer Lebensanschauung heraus, nach der Kunst und das lebendige Leben in einem Gesamtkunstwerk verflochten sein sollten, dem seinen, das nunmehr über sechs Jahrzehnte hinweg befremdet, verwirrt, doch zugleich auch nicht geringes Vergnügen bereitet hat mit grenzenlosen Expeditionen in die Welt der Musik.

Wenn der Komponist das Wort ’verwirren’ verwendet, kann das unmittelbar – verwirrend wirken. Nørgård selbst deutet dies noch tiefer aus: ”Ich wünsche Mehrdeutigkeit. Dieses Wort verwende ich in jedem Zusammenhang, gemeinsam mit dem Wort Interferenz. Interferenz ist Mehrdeutigkeit in weitestem Sinn, und danach strebe ich.”

Diese Mehrdeutigkeit bringt es mit sich, dass man als Hörer nie eine eindeutige Antwort darauf bekommt, wovon denn die Musik ’handelt’. Es ist wohl, wie der Dirigent Celebidache über Nørgårds Musik sagte: ”Erst das Bewusstsein einer neuen Zeit im neuen Jahrtausend wird imstande sein, die Reichweite der Musik Nørgårds ganz zu verstehen.”

Die Mehrdeutigkeit sehen wir auch in einem übergeordneten Sinn im Nørgårdschen Oeuvre und seiner Ästhetik. Kompositorisch kennzeichnend für das Werk sind seine Erkundungen, die weit verzweigt in vielerlei Richtungen führen. Vielleicht kann man von einer musikalischen Prosa reden ohne Rhythmus und ohne Reim, die aber hinreichend biegsam und stark ist, sich der lyrischen Bewegtheit der Seele, den Wogen des Traums und dem Quell des Bewusstseins anzupassen. Welches sprachliche Bild ließe sich wohl zur Erklärung dieses Nørgårdsche Universums verwenden?

Die Metapher des Reisens böte einen unter möglichen Zugängen, die Kunst Per Nørgårds zu beschreiben. In seiner Musik tun sich oft weiße Flächen auf, gleichsam leere Räume, als wäre aus ihnen jemand verreist.

Per Nørgård ist ein Reisender in der Musik, doch seine Reisen und Erkundungen enden nicht wie bei Schubert, Caspar David Friedrich, Wagner oder Poe in kalter Ungewissheit und Verderben. Nørgårds Reisen suchen nichts Gegenstandsloses zu offenbaren, sondern sind Ansatzpunkte für Reflektion, Bilder und Klänge, die Zustände beschreiben.

Ein wichtiger Teil solcher Zustandsbesinnung erwächst aus Erinnerungen, die inmitten des Ganzen aufscheinen, gleichsam überraschend, und dennoch nie demonstrativ, sondern stets verhalten. Zum Merkmal für Nørgårds Musik wird auf diese Weise die Vorläufigkeit, die sich zudem durch ihre Sinnlosigkeit, ihren Galgenhumor auszeichnet, alles Kennzeichen ihrer Grenzüberschreitungen, sowohl im Verhältnis zum Umgangston der Gesellschaft wie zur Logik der Musik. Gelebtes Leben und Musik sind in einem großen Gewebe miteinander verflochten.

Ich stelle mir vor, dass die Anstrengung beim Komponieren zu einem Teil darin bestehen dürfte, auszusondern statt einzubeziehen. Denn auf eine Weise bietet Per Nørgårds Universum grundsätzlich für alles Platz, und von außen betrachtet hängt alles erstaunlicherweise ja irgendwie mit allem zusammen. Nicht nur kann alles geschehen – alles geschieht tatsächlich: in den Werken wie außerhalb der Werke, in den sonderbaren Arabesken und Geschehnissen des gelebten Lebens.

Per Nørgårds Fähigkeit zu vergessen, und für sich selbst wie für andere verschwunden zu sein, verstärkt noch die Geschehnisse in diesem Universum der Möglichkeiten. Wie viele Komponisten haben es beispielsweise erlebt, ihre vergessene Aktenmappe mit Originalpartituren von Kugeln durchlöchert wiederzubekommen, weil gegen sie Rullemarie, der Polizeiroboter zur Bombenräumung, zum Einsatz gebracht worden war? Per Nørgård hat es erlebt.

Nørgårds Schaffen weist einen Willen zum Experimentieren auf, das stets zur Arbeitsweise des Komponisten gehört hat. Man findet keine safety-first-Lösungen bei Nørgård, keinen Protz, keine Effekthascherei. In einer Zeit, da der mainstream zur Norm und der Kassenerfolg zum Maßstab für Qualität geworden ist, stellt sich Per Nørgård der Vereinheitlichung und Verflachung entgegen.

Daher mag jedes einzelne Werk dem Komponisten ein Prüfstein sein, ob es ihm denn noch immer gelingen mag, etwas Sinnvolles zu Papier zu bringen? Das Werk scheint ihn wie in einem Manegenrund herumzutreiben, bis er einen roten Faden erhascht hat, oder eine ’Brücke’, wie er selbst sagt, die ihn in Zwiesprache bringt mit dem Willen und der Kraft, die dem Material innewohnen.

Wie schon angedeutet, stellt sich das künstlerische Universum bei Per Nørgård von Anbeginn bis heute im Zusammenhang als ein großes work in progress dar. Das ist paradox, denn im Namen steter Selbstüberschreibung hat sich der Komponist in seiner Musik über die Jahre hin ewig im Aufbruch befunden: ironische Pastichen, Unendlichkeitsreihen, Proportionen nach dem Goldenen Schnitt und metaphysische Schönheitssuche beschäftigten ihn in den 70er Jahren, das leitete in den 80ern über zu Auseinandersetzungen mit großen existentiellen Fragen, welche stark vom schizophrenen Künstler Adolf Wölfli inspiriert waren, darauf folgten dann in den 90ern Experimente mit dem, was Nørgård selbst als ’Toninseln’ bezeichnet – all das waren für ihn Methoden, neue Tonreihen als Träger eines übergeordneten Ausdruckswillens zu generieren.

Der junge Per begann schon in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre Heimkinofilme zu zeichnen und Musik dazu zu schreiben. Er nannte diese Zeichentrickfilmen ähnlichen Bilderfolgen auf Papierrollen ’tecnis’, und sie wurden zu seiner eigenen Musikbegleitung im verständnisvollen Familienkreis vorgeführt. Schon damals machte sich der Künstler Aufzeichnungen zum Geschaffenen. Er verfolgte ’Werke’ in der tecnis-Serie zurück, und im Katalog des jungen Per heißt eine der Produktionen ”Will”, die seinen eigenen Worten nach ”ein Film der Spitzenklasse von beachtlicher Länge, und mit nicht weniger als zwei Pausen” gewesen sein soll. Der Film wurde am 9. März 1947 gezeigt. Der Held des Films besucht etliche fremde Länder zur Begleitung einer Musik von unverwechselbarer Prägung.

Der Grund dafür, dass Nørgård überhaupt begann, sich als teenager mit Musik zu beschäftigen, war, dass er von einer Musik träumte, die es nicht gab. Er hatte eine Vision von einer ganz andersartigen Musik, eine Vision, die er lange Jahre als sein Geheimnis hütete. Seinem Empfinden nach fehlte etwas an der Musik, die es gab – er meinte, da müsse noch etwas hinzugefügt werden in der doch von Musik so erfüllten Welt.

Mit eigenen Worten des Komponisten:

”Ich hatte eine Ahnung davon, dass es in der Musik ein Potential gab, das unerforscht und durch und durch fantastisch war. Ich hatte also früh die Vorstellung von einer ganz anderen Musik, einer Musik, wo jeder Ton eigentlich Teil von vielen Melodien war. Nämlich, dass alle Töne in ihrem großen unendlichen Ganzen in gewisser Weise eine Melodie ergeben müssten. Alle Melodien entsprangen in Wahrheit dem einen riesigen Strom, einer Art Vorstellung von einer Linie, die eigentlich nur ein Punkt war, der sich die ganze Zeit unter neuen Facetten seiner selbst zeigte.

Ich stellte mir eine Musik vor, die aus einem solchen Tönepunkt heraus gewoben würde, der andauernd gleichsam die Frequenz wechselt. Von dieser Vision wagte ich nicht, mit irgend jemandem zu sprechen. Und ich hatte tatsächlich, im Abstand von einem Jahr, zwei nächtliche Träume, aus denen ich am Morgen erschüttert erwachte. Ich wusste nur, dass etwas geschehen war. Ich war auf einer Berghöhe in einem Haus mit tiefen Fensterleibungen, nichts an den Wänden, weißen Wänden, bei intensivem Licht von der Sonne und dem leuchtend blauen Himmel draußen. Ich war allein. Da waren zwei Zimmer, und ich war in dem einen, das leer war, ich ging in das andere, und dort stand ein großer, schwarzer Flügel. Als ich auf ihn zuging, wusste ich, das war mein Schicksal.

Man kann ja völlig beliebig träumen, daher sagt der Traum selbst gar nichts aus, wenn ich ihn erzähle; doch da war dies Licht in dem Traum. Es leuchtete in übernatürlichen Farben und aus seinem eigenen Strahlen – das hatte nichts mit einem normalen Traum gemein. Es durchdrang wie ein Schneidbrenner. Ich war 14 Jahre alt. Im Jahr danach kam der Traum wieder. Vollkommen unverändert. Mit dem Zimmer, dort bin ich – ich gehe seitwärts in das andere – und dort steht der Flügel. Ich schwöre, es war wie ein Filmschnitt, der vollkommen identisch wieder abläuft. Nicht nur war das Licht gleich stark, sondern es war überhaupt noch einmal der selbe Traum! Auf die eine oder andere Weise also hat dies mich wohl darin bestärkt, dass ich ein Komponist sei.“

Seit Per Nørgård mit etwa 17 Jahren sich im Ernst zur Musik entschloss, können wir eine Spur auf einem von Anbeginn wahrnehmbaren Weg nachzeichnen. Er hat sich als Komponist stets auf ungesichertem Terrain bewegt, auf wechselndem Terrain, doch immer ungesichert. So bald er eine stilistische Plattform ausgebaut hat, bricht er mit dem gerade Gefestigten, um neuen Boden zu gewinnen. Wenn man so will, ist genau das ein Teil der Mehrdeutigkeit und Verwirrung seiner Musik.

Nørgård profiliert sich früh als scharfer Kritiker in der Tages- und Fachpresse, und er wird zum intellektuellen Mentor und zur Quelle der Inspiration für jüngere Komponistengenerationen. Wenn Nørgård weit über das engere Fachmilieu Anerkennung gefunden hat, so ist das nicht zuletzt einer fabelhaften Vermittlungsfähigkeit als Lehrer und Autor geschuldet, verbunden mit einem kaum zu zügelnden schelmischen Humor. Man fühlt sich elementar angezogen sowohl vom Menschen Nørgård wie vom Künstler Nørgård.

Montag (02.05.2016) München Verleihung Ernst von Siemens Musikpreis 2016 im Prinzregententheater. Per Nørgård ist mit dem Ernst von Siemens Musikpreis ausgezeichnet worden. Foto: Ernst von Siemens Musikstiftung/Stefanie Loos.

Man könnte versucht sein zu glauben, dass Per Nørgårds mannigfaltige Einsatzbereiche im Musikleben seiner Kreativität als Komponist im Wege stehen müssten. Doch das wäre eine übereilter Schluss, denn die Bereiche befruchten einander. Als sich Nørgård beispielsweise von der Welt der Fraktale und den neuen Chaostheorien inspirieren ließ, hat er es nicht mit theoretischen Sondierungen bewendet sein lassen. Im Gegenteil sollten die Erfahrungen, die er dabei gemacht hatte, die musikalische Praxis anstecken – die Welt der Ideen wurde übergeführt in die konkrete Welt. Der praktische Zugriff des Musikers, die Spekulationen des Theoretikers und die seelenanrührenden Tiefenbohrungen des Künstlers sind zutiefst ein und dasselbe bei Per Nørgård.

Ein anderes wichtiges Wort im Bereich des Nørgårdschen Oeuvre ist das Wort Potpourri, das aussagt, dass Teile der Musik in Wirklichkeit das sind, was Adorno ’gesunkenes Kulturgut’ nennt. Doch Potpourri bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass Nørgårds musikalische Landschaft buchstäblich zu nehmen wäre, denn dann nähme man sie als eine Weiterführung alter Formen wahr. Statt dessen ist Potpourri als Signatur, als Nørgårds ganz eigene Signatur zu jedem Werk zu lesen.

Hierzu gehört auch das Interesse an Märschen, populärer Musik, folkloristischen Klängen und vielem mehr, einschließlich aller möglichen mehrdeutigen Extravaganz, die zur Verwirrung beiträgt. Nørgård hat sich ein Menschenleben lang ewig-kritisch auseinandergesetzt mit der Tradition, mit dem Potpourri und mit Wiederverwendungen aus der großen Vorratskammer der Musikgeschichte. Als Komponist ist er im besten Sinne ein musikalischer Kleptomane, wie es Stravinsky ausdrückte: ”Lesser artists borrow, great artists steal”.

Das Reisen in fremde Lande und der Freiraum, den das gibt und der Platz hat für einen jungen Musikstudenten, wie es der Unterzeichnete einst war, für schräge Existenzen, für Außenseiter in weitestem Verständnis, für Kinder, für Amateure, für geistig Behinderte, für Professionelle, für plötzliche Einfälle – zutiefst also für Menschen und deren Leben – das hat für Per Nørgård unverändert im Mittelpunkt gestanden seit dem ’Film der Spitzenklasse’ “Will”.

Geehrte Festversammlung: bitte gestatten Sie mir, mit einem letzten Wort zur Charakterisierung zu schließen. Hätte ich dazu nur einen Ausdruck zur Verfügung, müsste er ’Freiraum’ lauten, Freiraum ist mit Neugier versippt, und zusammen schaffen sie den Spielraum dafür, sich stets wundern zu können und dem Fremden mit Offenheit zu begegnen.

Per Nørgård hat solche Spielräume, bis nahe ans Naive. Wenn seine Frau Helle sagt, im Garten hinter dem Haus steht ein unidentifiziertes Flugobjekt, geht Per Nørgård hinaus und vergewissert sich. Ich erinnere mich an einen Silvesterabend, als wir bei der Hütte des Komponisten auf der Insel Langeland am Strand standen und Per Nørgård zum Himmel hinaufzeigte und sagte (frei aus der Erinnerung zitiert): ”Hier sehen wir also zwei reisende UFOs auf ihren parallelen Bahnen unterwegs unterm Himmelgsgewölbe.” Und er sah dabei aus wie wenn er daran glaubte.

Lieber Per Nørgård. Seit Du am 14. August 1985 auf einer Landstraße in Deinem gelben Morris Mascot den jungen Studierenden auflasest, habe ich das Privileg gehabt, Deine künstlerische Reise mitverfolgen zu dürfen – unsere Bekanntschaft währt also schon mehr als 30 Jahre.

Ich habe die Ehre gehabt, über die Jahre hin etliche Werke bei Dir in Auftrag zu geben, jüngst im vergangenen Jahr für die Festspiele in Bergen, wo das Philharmonische Orchester Bergen mit den Solisten Peter Herresthal (Violine) und Jacob Kullberg (Violoncello) Dein Doppelkonzert ”Three Nocturnal Movements” uraufführte. Die Mehrdeutigkeit wirkte auch hier, es gelang Dir wieder, mich zu verwirren, doch wie stets verwirrst Du und schaffst das innovativ Disruptive auf erhebende Weise, so dass man sich in die Musik wieder und wieder zurücksucht und sie von neuen Seiten erlebt.

Heute nimmst Du einen der größten und prestigeträchtigsten Preise in der Welt der klassischen Musik entgegen, den Ernst von Siemens Musikpreis. Ich bin im eigenen Namen wie im Namen der dänischen Kunstwelt stolz darauf, dass Du diesen großen Preis als Anerkennung Deines künstlerischen Schaffens empfängst.

Herzlichen Glückwunsch, Per Nørgård.

© Anders Beyer 2016

Übersetzung aus dem dänischen Original: Hans Walter Gabler.